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27.01.2021
Museum

!Nie wieder: Geistiger Wiederaufbau

Eintracht Frankfurt erinnert rund um den Holocaust-Gedenktag in diesem Jahr an Martha Wertheimer.

„!Nie wieder“ Diese Botschaft der Überlebenden des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau haben Fußballfreunde 2004 aufgegriffen und den „Erinnerungstag im deutschen Fußball“ ins Leben gerufen. Ein Bündnis aus Fangruppen und Fanprojekten, Vereinen, Verbänden und Institutionen aus dem Fußball gedenkt seitdem rund um den Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz der im Nationalsozialismus ausgegrenzten und oftmals ermordeten Vereinsmitglieder. Die Eintracht erinnert in diesem Jahr an Martha Wertheimer.

Die Pädagogin, Journalistin und Schriftstellerin Martha Wertheimer wird am 22. Oktober 1890 in Frankfurt geboren. Ihr Vater Julius ist Kultusbeamter für das Bestattungswesen in der orthodoxen Israelischen Religionsgesellschaft, Mutter Johanna betreibt ein Schneideratelier auf der Zeil. Marthas Bruder Emil fällt als junger Soldat im Ersten Weltkrieg in der Champagne, die ältere Schwester Lydia arbeitet als Sekretärin des Politikers und Industriellen Richard Merton. Martha Wertheimer wird 1911 an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften immatrikuliert, die drei Jahre später zur Frankfurter Universität wird. 1917 gehört sie zu den Ersten, die an der neuen Universität promoviert werden. 

Wertheimer arbeitet in den 1920er Jahren als Journalistin für die Offenbacher Zeitung. Sie engagiert sich politisch, vor allem für das Frauenwahlrecht. Sie ist auch sportlich, Mitglied bei der Eintracht und eine begeisterte Fechterin. Bereits 1921 veröffentlicht sie unter dem Pseudonym Martha Werth das Buch „Frauenart und Leibesübung“, 1923 dann unter ihrem richtigen Namen das Buch „Erziehung zum Fechter“.  Ihr Talent zum Schreiben kommt auch der Eintracht zugute. Jahrelang ist Wertheimer Schriftleiterin der Vereinsnachrichten. Sie berichtet schon 1922 vom ersten Länderspiel am Riederwald, 1932 begleitet sie das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft gegen den FC Bayern München.

Im Verein versucht die Visionärin ein sogenanntes Geistesturnen zu etablieren, bei dem sich die Turner und Sportler nicht nur um den Körper kümmern sollen, sondern auch um einen sportlichen Geist. Über den Sinn des Geistesturnen berichtet Martha Wertheimer in den Vereinsnachrichten vom Juni 1921: „Geistesturnen kann und darf sich also nicht darauf beschränken, dass den Vereinsmitgliedern das Wesen der Leibesübungen oder besonderer ihrer Zweige erklärt, nahegebracht und vertieft wird. Es muss auf alle Gebiete übergreifen, wo ein erzieherischer Wert geborgen liegt. Vorträge über künstlerische, ethische, geschichtliche, naturwissenschaftliche Fragen müssen einbezogen werden. Ja, der Gedanke kleinerer Arbeitsgemeinschaften ließe sich erwägen, in denen sich Menschen, die für ein bestimmtes Gebiet Neigung haben, sich zu gemeinsamer Arbeit vereinigen. Das Vereinsleben wird auf diese Weise auf eine höhere Stufe gehoben, als Tanzvergnügen oder Kneipen es vermögen. Es wird in Deutschland wohl genug getanzt und sich vergnügt, aber es wird nicht genug gedacht und Gutes gewollt.“

Fechterin, Vereinsmensch, Visionärin

Am 4. November 1920 referiert Martha Wertheimer in der Turnhalle vor großem Publikum über das „Wesen des Volkslieds“, am 28. April 1922 vor weitaus weniger Zuhörern über „Das körperliche und geistige Mannesideal bei den Babyloniern“. Für solch schwierige Themen sind Vereinsmitglieder schwer zu begeistern, aber schlecht besuchte Veranstaltungen entmutigen Wertheimer nicht. Im Juni 1921 schreibt sie: „Schlecht besuchte Vorträge dürfen nicht abschrecken. Wer eine Aufgabe erkannt hat, muss wissen, dass Erfolge immer nur spät kommen. Wer für das Geistesturnen arbeiten will, muss selbstlos sein; persönliche Erfolge sind keine zu holen. Aber wenn unter den Menschen, die kommen, auch nur einige heimkehren mit dem Gefühl, belehrt oder erhoben worden zu sein, dann ist viel gewirkt.“  

Martha Wertheimer organisiert auch die Weihnachtsfeiern des Vereins. Als Resümee des Fests 1922 berichtet sie: „Als gegen elf Uhr sich der Saal leerte, war ein Fest vorüber, das in lauter Fröhlichkeit bewiesen hatte, wie weit das Zusammengehörigkeitsgefühl unter unseren Mitgliedern geht. Es waren fröhliche Weihnachten. Und wir, denen der geistige Wiederaufbau unserer deutschen Menschen am Herzen liegt, wollen uns als letzten Ausklang der Weihnachtszeit wünschen: ‚Eintracht, trag‘ Weihnachtsgeist ins ganze Jahr, sein unserer Neugeburt Verkündigung.‘“

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wird Martha Wertheimer bei der Offenbacher Zeitung entlassen. 1936 muss sie mit ihrer Schwester Lydia die liebgewonnene gemeinsame Wohnung in der Heimatsiedlung verlassen. Martha geht nach Berlin, wo sie sich für eine Zeitung die Chefredaktion leitet. Sie engagiert sich im Jüdischen Kulturbund und übernimmt Funktionen im Makkabi, der jüdischen Sport- und Jugendorganisation. Sie wirkt mit am Buch: „Das jüdische Sportbuch. Weg, Kampf und Sieg“, das noch 1937 erscheint. 1938 kehrt sie zurück nach Frankfurt, fortan wohnt sie gemeinsam mit ihrer Schwester in der Beethovenstraße. Auch in Frankfurt engagiert sie sich in der Jüdischen Wohlfahrtspflege, sie organisiert und begleitet Kindertransporte ins rettende Ausland. Doch Martha Wertheimer kehrt immer wieder zurück nach Deutschland.

Nachdem Lydia 1940 vorübergehend verhaftet und Martha von der Gestapo verhört wurde, planen die Schwestern dann doch die Flucht. Die Flucht gelingt nicht mehr. Im Mai 1941 wird Martha bei einem Bombenangriff durch eine Splitterbombe verletzt, ihre Wohnung zerstört. Ende 1941 müssen Martha und Lydia in ein Ghettohaus in der Fürstenbergerstraße 167 umziehen. Die Gestapo zwingt sie, bei der Organisation der Judendeportationen mitzuarbeiten. Sie selbst wird gemeinsam mit ihrer Schwester für den dritten Transport aus Frankfurt eingeteilt, der am 11. Juni 1942 startet. Als der vorgesehene Transportleiter ausfällt, erhält Martha diese Aufgabe. Von den etwa 1000 über Lublin nach Majdanek und Sobibor Deportierten überlebt keiner. Möglicherweise kommt Martha Wertheimer dem Tod in der Gaskammer durch Selbstmord zuvor.

Literaturtipp

  • Das jüdische Sportbuch (Martha Wertheimer, Siddy Goldschmidt und Paul Yogi Meyer) (Berlin 1937).
  • In mich ist die große dunkle Ruhe gekommen. Briefe an Siegfried Guggenheim in New York 1939-1941 (Herausgeber: Fritz Bauer Institut; Frankfurt am Main, 2. erweiterte Ausgabe 1996).